Paris
Am
4. September flog ich
in den frühen Morgenstunden mit meiner
Tante Ursel nach Paris.
Als wir auf dem riesigen Flughafen Charles
de Gaulle landeten, empfing uns ein kleiner Nieselregen. In Hamburg hatte es
die letzten Tage wieder einmal in Strömen geregnet, deshalb konnte uns das
Wetter nicht schrecken. Ursel ist eine sehr gute Pilotin (sie fliegt einen
Motorsegler) und während wir noch auf dem langen Rollband durch die große
Flughalle schwebten, war sie immer noch ganz begeistert von den Dimensionen
dieses Flughafens. Sie erklärte mir, dass die Terminals hier eine ganze
Metro-Station auseinander liegen, während man in Hamburg von Terminal 1 zu
Terminal 2 nur ein paar Schritte gehen muss. Als wir die großen Flughafenhallen
durchschritten hatten, fanden wir auch gleich den Zug, der uns mitten in das
Herz von Paris bringen sollte. Nach einer längeren Fahrt landeten wir im
Bahnhof Gare Du Nord. Um den Bahnhof herum hockten die Berber und Bettler. Die
übel riechenden Ecken wurden anscheinend mit einem sehr süßlichen Parfüm
besprüht, anders konnten wir uns diesen Wohlgeruch nicht erklären, der sich
hier in die Pariser Luft erhob. Wir waren nur über eine Hauptstraße gegangen,
und dann in eine kleine Seitenstraße eingebogen, als Ursel in den Stadtplan sah,
um die Straße unseres kleinen Hotels - nicht weit entfernt von der Kirche Sacre
Coeur - zu suchen, als ich mich auch schon in diese Stadt verliebt hatte. Ein
ganz leichter Sprühregen erfrischte uns in dieser leichten und warmen Luft, die
Menschen schritten leicht und locker durch die engen Gassen – und die lichten
Häuser aus Sandstein mit ihren schwarzen Ziergittern unter den Fenstern,
erinnerten mich gleich an all die großen Künstler, die in dieser Stadt gelebt
hatten. Unser Hotel Marena lag schon etwas steil bergauf unter dem großen Hügel
der Kirche, die man aber von hier aus noch nicht erblicken konnte. Hinter dem
Empfangstresen des Hotels begrüßte uns ein Franzose, der etwas übermüdet
wirkte. Mit höflichen Worten überreichte er uns die Schlüssel. Unser Zimmer mit
Bad war klein, aber sehr komfortabel. Nachdem wir uns frisch gemacht hatten,
führte uns der erste Weg gleich an die Seine. Ursel war mit einem Stadtplan und
mit einem Plan der Metro bewaffnet, außerdem hatte sie sich auf diese Reise mit
ihrem Organisationstalent ausreichend vorbereitet, deshalb konnte auf dieser
Reise eigentlich nichts schief gehen.
Die
Seine floss majestätisch und in aller Ruhe und Gelassenheit dahin, die Brücken
schienen alle in ein Märchenland zu führen, und Notre Dame thronte in vornehmer
Blässe in ihrem verzierten Gewande unter dem hellblauen Himmel in der Ferne,
als ginge sie der Alltag nichts an. Einige Bouquinisten hatten ihre
Schatztruhen geöffnet und hier erblickte ich auch gleich ein kleines Poster von
Jim Morrison, das Foto vom jungen Löwen, das hier für nur zwei Euro verkauft
wurde. Gleich am ersten Tag begrüßte mich das vertraute Gesicht in dieser Stadt
und der Bouquinist strahlte mich an, als ich mich über den günstigen Preis für
den schönen Druck freute, und er sagte mit charmanter Geste: » Ja, so bin ich!
« Bei den anderen Bouquinisten waren neben Kitschartikeln auch wertvolle alte
Stiche und antiquarische Bücher der großen französischen Schriftsteller zu
finden. Um hier zu stöbern hätte man sehr viel Zeit benötigt.
Meine
bunten Erinnerungen an Paris überschlagen sich in meinem Kopf und deshalb will
ich einfach von den großartigen Momenten berichten, die mir in den Sinn kommen,
ohne auf die Chronologie der Reise so viel Rücksicht zu nehmen. Ich erinnere
noch:
Wir
besichtigten Notre Dame von innen und ich staunte über die Helle, dem Licht in
dieser Kirche. Ich erblickte die edle, elfenbeinfarbene Pieta aus weiter Ferne
und bestaunte die Ornamente, die sich um die leuchtenden Blütenfenster rankten.
In St. Michel betrachteten wir den schönen Brunnen mit dem Erzengel, an dessen
Wasserbecken überall die jungen Menschen und Studenten saßen. Die Atmosphäre
war entspannt und fröhlich. Die Bistros und Bars klebten nebeneinander, alle
mit offenen Fenstern zur Straße hin. Die weinroten und flaschengrünen Farben der
Markisen, die mit den schönsten Goldschriften verziert waren, die leuchtenden
Farben der kleinen Geschäfte, all dies verlieh dieser Stadt ihren vornehmen,
aber dabei auch unaufdringlichen Charakter. Wir besichtigten auch das Pantheon
von außen, ein großer und imposanter Bau, der Geschichtsliebhabern viel
erzählen kann. Inzwischen war es sonnig in Paris geworden. Am Eingang des
Jardin du Luxembourg flanierten junge Mädchen aus den grünen Rundbögen, die an
den Spitzen gebogene Sonnenschirme über die Schultern hielten, als wären sie
einem Bild von Seurat oder Monet entsprungen. Ich erinnere mich auch an das
Bild eines überirdischen Wesens, das sich bei näherem Hinsehen als ein
Transsexueller entpuppte. Er trug eine blonde Perücke und darüber einen goldenen Seidenhut, die
Krempe so groß wie ein Wagenrad, die mit den schönsten Seidenrosen geschmückt
war. Das goldene Seidenabendkleid schmiegte sich an die Wespentaille und fiel
am Saum wie Seerosenblätter über die glitzernden Stöckelschuhe. Die
vorübergehenden Pariser blieben stehen und hielten für einen Moment die Luft
an, dann sagte eine Frau: »Seht nur, wie schön! « Ursel hätte bei diesem
Anblick am liebsten noch gleich die Kamera gezückt, aber da war dieses Wesen schon
vornehmen Schrittes weggestöckelt, und ich dachte, ich hätte nur geträumt.
Worte reichen nicht aus, um diesen Moment zu beschreiben. In meiner Heimatstadt
Hamburg kann man auch viel erleben, aber so eine traumhafte Situation ist nur
in Paris möglich.
Das
Gefühl, sich durch einen Traum zu bewegen, verstärkte sich im Jardin du
Luxembourg ganz ungeheuer. Ich sah die Palmen vor dem plätschernden
Wasserbecken vor dem hellen Schloss mit der wehenden Fahne, die blauen und
violetten Blumenbeete vor den weißen Skulpturen, im Himmelblau lugte die Spitze
des Eiffelturms hervor. Friedlich schlenderten die Menschen durch diesen Garten
oder sie entspannten sich in den Stühlen und lasen ein Buch. Ursel machte bald
ein Schläfchen im Gartenstuhl und die Spatzen hüpften durch die Kugelbäume. Ich
hörte das Gemurmel der vielen Menschen, das Pfeifen eines Vogels und Kinderstimmen,
den Ruf der Enten. Es war wie im Paradies.
Kurz
vor Sonnenuntergang waren wir am Place de la Concord. Der Platz war gigantisch
groß. Die vielen Dimensionen der
französischen Geschichte hatten hier ihre Schwingungen hinterlassen. Auf diesem
Platz wurde Robespierre enthauptet und hier starben König Ludwig und Marie
Antoinette. Vielleicht waren mir die Schwingungen deswegen an diesem
Verkehrsknotenpunkt etwas unheimlich. Wir betrachteten die prächtigen Brunnen
und den vergoldeten Obelisken, er verzierte einst den Tempel von Luxor. Der
Kreisverkehr führte zum Triumphbogen - und als die Sonne langsam unterging, sah
man die vielen roten Lichter der Autos in der Luft glitzern und flimmern. Hier
war mir beinahe alles ein wenig zu prächtig und zu groß. Sternenförmig führten
die großen Prachtstraßen zum Triumphbogen, der einst Napoleons Triumphzüge
glorifizierte. Als die Sonne untergegangen war, fuhren wir mit der Metro zurück
zu unserem Hotel. Die U-Bahn verkehrte hier alle zwei Minuten und die tiefen
Tunnel waren hier dunkel und unheimlich. Ich war ganz froh, als wir wieder an
die Oberfläche kamen. Wir aßen noch eine herrliche Dahlsuppe in einem kleinen indischen
Restaurant, das ganz in der Nähe des Hotels lag. Hier konnte man noch an einem
Tisch auf der Straße sitzen und ich unterhielt mich noch angeregt mit Ursel,
bis wir müde waren.
Am
nächsten Morgen hatten wir das Frühstück im Hotel verschlafen. Wir gingen in
den kleinen Tabakladen, der direkt neben unserem Hoteleingang lag. Dort kaufte
ich mir eine Schachtel französische Zigaretten und bemerkte, dass es hier auch
gut duftenden Kaffee gab. In diesem kleinen Laden gab es auch kleine Tische und
Korbstühle, also beschlossen wir, hier unser Frühstück einzunehmen. Ich
bestellte etwas vorschnell ein Crossoint bei dem freundlichen Besitzer,
bemerkte dabei aber leider zu spät, dass es hier nichts zu verzehren gab. Aber
da schickte der Tabakmann schon seine hübsche Gehilfin über die Straße, die mir
in der kleinen Bäckerei gegenüber ganz geschwind das Gewünschte kaufte, um es
mir sogleich in einer Serviette auf den Tisch zu legen. Ich bedankte mich
überschwänglich und war erstaunt über diese zuvorkommende Geste. Die Franzosen
waren wirklich überaus freundlich. Als wir den herrlichen Kaffee getrunken
hatten, war ich ein wenig aufgeregt, denn unser nächstes Ziel sollte Jim
Morrisons Grab auf dem berühmten Friedhof Père Lachaise sein. Wir kauften uns
schnell noch ein herrliches Baguette mit Oliven, bevor wir wieder in die tiefen
Tunnel der Metro eintauchten. In Jan-Erik Hubeles Buch »Zwischen Himmel und
Hölle. Jim Morrison in Paris« hatte ich gelesen, dass Jim Morrison diese
dunklen Tunnel auch immer unheimlich gewesen waren. Er ging lieber zu Fuß. Nun
bewegte ich mich auch in dieser Stadt und konnte diese leichte Angst gut
nachvollziehen. Jede U-Bahnstation war hier anders und sehr anregend gestaltet.
Eine dieser Stationen ist zum Beispiel mit unendlich vielen Kacheln verziert,
auf denen nur Buchstaben zu sehen sind. Wenn man die ersten Stufen zur Metro
hinab gestiegen ist, dann schickt man die Bahnkarte durch einen kleinen Schlitz,
muss sich dann in Windeseile durch die verzahnte Sperre quetschen, um dann
blitzschnell die Karte aus dem nächsten Schlitz wieder in Empfang zu nehmen.
Wenn man die unterirdischen Gefilde wieder verlassen will, muss man schnell
durch eine kleine Tür, die sich nur in Richtung Ausgang öffnet. Trotzdem gibt
es in den Bahnhöfen Fahrkartenkontrollen. Das System war bombensicher, aber es
taugte absolut nicht für eine Massenpanik. Aus diesem Grunde fühlte ich mich
dort unten immer etwas unwohl. In den tiefen Tunneln wurden manchmal
Reparaturen ausgeführt und dabei konnte man das nackte Höhlengestein sehen, aus
dem ein wenig Wasser floss. Die Bahnen verschwanden im Eiltempo in den
tiefschwarzen Tunneln, die ganz in der Ferne mit hellen Lampen beleuchtet
waren, sie blinkten wie Sterne am nachtschwarzen Himmel. In der Bahn war es
immer sehr eng, die Sitzgelegenheiten klein - und die Luft war stickig. Diesmal
fuhren wir an der Station »Stalingrad« vorbei. Der Name weckte in mir
Assoziationen an einen schrecklichen Krieg. Hier kam man für kurze Zeit an die
Oberfläche und sah das spinnennetzartige Gewirr der vielen Schienen und
Oberleitungen, die zwischen alten Häuserfronten eingekeilt waren. Nun kamen wir
dem großen Geist der Toten immer näher und mir war es ein wenig unheimlich.
Als
wir an der Station »Père Lachaise« ausstiegen und die Treppe hochgehen wollten,
kauerte dort auf den Stufen – still wie eine Statue - eine ganz in schwarz
gehüllte Gestalt. Es war eine vollkommen
vermummte muslimische Frau, die ihre Hand den Vorübergehenden wie eine Bettelschale entgegen hielt. Sie bewegte sich
keine Sekunde, als wäre sie ein Denkmal in einer griechischen Tragödie, als
wäre sie ein verstummtes Klageweib, das die Armut so vieler Menschen in stiller Trauer und mit erfrorenen
Tränen beweint. Als wir dieser Unterwelt
entronnen waren, strahlte der Himmel in seinem schönsten Blau. Die hohen und
uralten Friedhofsmauern schlängelten sich windschief die Straße entlang. Gleich
an der Straßenecke entdeckte ich den kleinen Blumenladen, den Jim Lizardking
mir für den Kauf einer Rose empfohlen hatte. Ich wollte sie auf das Grab von
Jim Morrison legen. In diesem kleinen Geschäft herrschte eine ruhige und
angenehme Atmosphäre und es duftete nach den vielen edlen Rosen, die hier in
allen Farben in den Vasen standen. Ich wählte eine weiße und sehr langstielige
Rose für Jim Morrison. Die weiße Rose symbolisiert die Trauer und die Unschuld.
Die Rose ist das Symbol des mystischen Christentums. Sie symbolisiert das
weibliche Element und die Entfaltung in der Mitte des Kreuzes, dort wo der
Dualismus (symbolisiert durch die beiden Balken) scheinbar aufgehoben ist. Die
elegante Verkäuferin umwickelte mir den dornigen Stiel der Rose mit
Aluminiumfolie und wünschte mir noch einen schönen Tag. Die Sonne schien an
diesem Tag so herbstlich sanft, schmiegte sich wie Blattgold an die alte Mauer.
Vor dem Eingang des Friedhofs entdeckte ich auch den kleinen Postkartenstand,
auf den Jim Lizardking mich auch noch hingewiesen hatte. Hier gab es diese
seltenen Postkarten von Jim Morrison und seinem Grab, die sonst nirgends zu
finden sind. Eine freundliche, junge blonde Frau stand hier an diesem kleinen
Stand und verkaufte mir zwei Postkarten mit sehr viel Liebe. Als wir den
Nebeneingang des Friedhofs durchschritten und auf dem uralten Kopfsteinpflaster
dem Pfad an der Mauer entlang folgten, da war ich von Ehrfurcht erfüllt. Ich
betrat hier wirklich die Stadt der Toten, denn überall sah man die spitzen
Dächer der Familiengräber, die wie verwaiste Geisterhäuser zwischen den alten
Grabplatten hervorlugten. Am Haupteingang des Friedhofs sah ich eine Frau in
Uniform, die schon einer kleiner Schar Fans folgte, die unschwer an ihren
langen Haaren und den T-Shirts zu erkennen waren. Ursel war etwas erstaunt,
dass sie alle mit uns auf dem Weg zu Jim Morrisons Grab waren, denn sie wusste
nicht viel über diesen bis über den Tod hinaus geliebten Rockstar und Poeten.
Sie hatte ihr ganzes Leben hart gearbeitet, gesellschaftliche Verpflichtungen
gehabt, sich um ihre Kinder und die Familie gekümmert, aus diesem Grunde war
der Zeitgeist manchmal an ihr vorübergegangen, obwohl sie sehr gebildet war und
sie sich sozial und politisch sehr engagiert hatte. Anscheinend genoss sie
diese kleine Pilgerschaft auf dem Friedhofsweg und ich war sehr glücklich, dass
wir hier zusammen waren, denn Ursel hatte mir nicht nur diese Reise ermöglicht,
sie war mir auch sehr ans Herz gewachsen. Eine wunderbare und kluge Frau mit
einer großen Seele.
Wir
folgten bald dem leicht gewunden Pfad, der zu dem runden Platz mit dem
Grabdenkmal von Casimir Perier führte. Auf einmal lag ein herrlicher Blumenduft
in der Luft. Überall standen bunte Blumenkränze auf dem Wege, die mit schmalen
Trauerschleifen verziert waren. Sie waren mit chinesischen Schriftzeichen
bedruckt, die niemand entziffern konnte. Beim Denkmal setzte ich mich mit Ursel
auf eine Bank, wir aßen unser Olivenbrot und sprachen über den Tod. Wir machten
uns Gedanken darüber, was eigentlich von uns bleibt, wenn wir diese Erde
verlassen haben. Ursel erzählte mir von den vielen Häusern, die mein Onkel
gebaut hatte. Ursel ist nun auch schon längere Zeit Witwe. Mein Onkel ist ein
sehr guter und bekannter Architekt gewesen. Er hat sich sein ganzes Leben
Gedanken darüber gemacht, wie die Menschen sich in ihren vier Wänden wohl
fühlen und sich entfalten können. Im Gegensatz zu mir glaubt Ursel nicht an
eine Weiterexistenz nach dem Tode. Sie ist Atheistin. Sie glaubt, dass mit dem
Tod alles zu Ende ist. In meinen Augen wäre ein Versinken in einen unendlichen
Tiefschlaf, ein Verschmelzen mit dem Nichts, auch eine unendliche Gnade, an die
ich aber nicht glauben kann. Ich glaube an den Energieerhaltungssatz. Ich
glaube, dass in diesem Universum kein Elektron einfach verschwinden kann. Ich
glaube, dass die menschliche Seele ein Bewusstsein hat, das mit dem Ewigen
verbunden ist. Das Ewige liegt auch in jedem Augenblick, wie es die jüdischen
und christlichen Mystiker formuliert haben. Das Ewige wird auch Gott genannt,
dessen Namen man nicht aussprechen soll, von dem wir uns kein festes Bild
machen sollen, weil unser Verstand das Ewige nicht fassen kann. Meine
Vorstellung von einem Gott manifestiert sich nur in einer Liebe, die niemand
wirklich beschreiben kann. In unserem Leben hat alles einen wiederkehrenden
Rhythmus, auch wenn alles sich wandelt. Es gibt den Tag und die Nacht, unser
reales Leben, das Reich der Träume und den Tiefschlaf, der uns für kurze Zeit
von allem erlöst. Also warum sollte der Tod das Ende von diesen spiralförmigen
Kreisläufen sein? In der Ewigkeit gibt es keinen Anfang und kein Ende. Sie
liegt in jedem köstlichen Augenblick, ganz im Gegensatz zur Unendlichkeit, die eine
Qual für das Bewusstsein wäre. Aber diese Gedanken führen zu nichts, weil
niemand etwas beweisen kann. Ich glaube aber, dass wir alle auf dieser Erde
sind, damit wir die Liebe im Strom der Zeit erfahren dürfen und sie in der
Materie manifestieren können. Die Häuser und Wohnheime meines Onkels sind immer
noch Stätten der Geborgenheit für die Menschen, die dort jetzt wohnen. Ursel
wird immer an ihren Mann erinnert, wenn sie all die ästhetischen Gebäude
betrachtet, die eine Stadt schöner machen. Ich musste auf dieser Bank auch an meine verstorbene Mutter und meinen Mann
denken. Meine Mutter liebte die Literatur und diese Liebe lebt in mir weiter.
Mein Mann war ein Psychologe. Mit seiner Einfühlsamkeit hat er viele Menschen
aufgerichtet und er hat sie auf den Weg gebracht. Viele Menschen erinnern sich
voller Liebe an ihn. Jim Morrison
hinterließ uns schöne Melodien und Worte voller Poesie, ein großer Trost in
einsamen Stunden. Was wollen die Toten
uns sagen? Man bedenke: Jede Tat und jeder Gedanke kann diesen Planeten schöner
machen und jede Tat und jeder Gedanke kann auch etwas zerstören, das uns heilig
sein sollte. Jeder Mensch ist ein Teil des Ganzen. Ursel und ich kamen zu dem
Schluss, dass wir uns öfter fragen sollten, was von uns bleiben wird, wenn wir
gegangen sind. Die Ideen, die Gedanken und die Taten der Menschen bleiben für
eine lange Zeit lebendig, sie pflanzen sich in den Köpfen und Herzen der jungen
Menschen fort. Sie bleiben erhalten in den Geschichten, die wir uns erzählen.
Wie dann unser Grab aussehen wird, das ist relativ unwichtig. Es wird bleiben
und wachsen, was wir gesät haben.
Langsam
näherten wir uns dann Jim Morrisons Grab. Die Sonne schien durch die Blätter
eines Baumes, ein goldener Schimmer lag über diesem friedlichen kleinen Ort, an
dem sich schon eine bunte Schar junger Menschen versammelt hatte. Eine junge
Frau fing die Szene mit einer Kamera ein, sie war mit einem langen Teleobjektiv
bewaffnet. Ein junger Franzose stand vor der traurigen Absperrung direkt am
Grab und sang ganz leise und andächtig »Light my Fire «, während seine Freundin
der zarten Stimme und der schönen Melodie lauschte. Ein anderes Pärchen aus
Österreich wartete hinter mir in einer kleinen Schlange, um auch einen Moment
am Grab zu verweilen. Auf der linken Seite war das Grab mit einem weißroten
Band abgesperrt, als wäre hier eine Baustelle. Auf dem Grabstein lag eine große
Schriftrolle, darunter einige Blumen und Zettel. Ich warf meine Rose auf das
Grab, sprach im Stillen ein kleines Gebet, machte ein Foto und ließ dann einen
jungen Mann an die Reihe, der an seinem T-Shirt unschwer als Fan zu erkennen
war. Ich hatte das gleiche Sammlermodell in meinem Kleiderschrank in Hamburg
gelassen. Hinter den umliegenden Grabsteinen stand ein sehr interessant
aussehender junger Mann, der mich ein wenig am John Lennon erinnerte, nur seine
Gesichtszüge waren etwas weicher. Er beobachtete ganz ruhig das hier
versammelte Völkchen. So wie er da gelassen hinter den Grabsteinen hervorlugte
und sein schönes Gesicht mich an die gute alte Hippiezeit erinnerte, bat ich
Ursel, ein Foto von ihm zu machen, weil die Batterie meines Fotoapparates
gerade ihren Geist aufgegeben hatte. Wenige Minuten später kam er zu uns
herüber und bat uns in einem höflichen Englisch, das Foto wieder zu löschen.
Natürlich respektierten wir diesen Wunsch, aber ich war ein wenig enttäuscht,
denn das Foto, das auf dem Display gleich zu sehen war, ist großartig geworden.
Nach
diesem Besuch an Jims Grab schlenderten wir noch in aller Ruhe weiter über
diesen einzigartigen Friedhof mit seiner uralten Aura. Wir fanden bald das Grab
von Chopin - und während ich vor dem schönen Ziergitter mit den vielen bunten
Blumen in den Vasen stand, hörte ich im Geiste sein zartes Klavierspiel an mir vorüberziehen.
Warum konnte Jims Grab nicht so liebevoll umrandet und so gut gepflegt sein?
Ich dachte an die vielen fruchtlosen Korrespondenzen, die der Fanclub mit der
Friedhofsverwaltung geführt hatte. Alle Versuche, das Grab schöner zu
gestalten, waren gescheitert, weil einige Fans keine Distanz halten konnten,
auch die Würde der Toten nicht respektierten und sich an diesem Grab nicht
liebevoll verhielten. Ich konnte die Empfindungen, die Jason Boiler, der Sänger
von den Doors Experience, aufgrund der hässlichen Absperrung gehabt hatte, gut
nachvollziehen. Jim Morrison war Zeit seines Lebens ein Freiheitsliebender
gewesen, deshalb passte diese Aus- und Absperrung nicht zu einem amerikanischen
Poeten und Musiker, der ebenso schöne Melodien wie Chopin in die Welt gesetzt
hatte, nur waren sie eben für unseren Zeitgeist erschaffen worden. Warum
mussten denn die Verehrer der klassischen Musik die größeren Feingeister sein?
Diese Gedanken machten mich ein wenig traurig, während ich diese
Frühlingspracht in den Grabvasen von Chopin bewunderte. Wie liebevoll wurde
hier dieser unsterblichen Musik gehuldigt.
Auf
dem weiteren Wege besuchten wir auch die Gräber der anderen großen Geister, die
sich hier im Tode versammelt hatten: Sarah Bernhardt, Simone Signoret und Yves
Montand, Gertrude Stein, Edith Piaf. Wir sahen die große Büste von Balzac und
das Grabmal von Molière, bis wir zum Columbarium kamen. Hier fanden die
Leichenverbrennungen statt und die Urnen wurden an diesem Ort in kleinen
Fächern aufbewahrt. Wir suchten die Urne von Maria Callas, aber fanden sie
nicht, weil sie nur vorübergehend dort aufbewahrt wurde. Gleich neben dem
Columbarium sollte sich das Grab von Marcel Proust befinden, aber nach längerem
Herumirren war unsere Suche erfolglos geblieben. Das Grab war in dem
Friedhofsplan falsch eingezeichnet. Ich befragte einen älteren Mann, der hier
gerade ein Grab pflegte. Trotz meiner miserablen Französischkenntnisse hatte er
mich verstanden, denn das Wort Marcel Proust entlockte ihm ein
verständnisvolles Lächeln. Er sagte, wir sollten uns ein wenig mehr nach links
halten, das Grab wäre ganz in der Nähe. Nach kurzem Suchen hatten wir es dann
auch endlich gefunden. Ich war froh darüber, denn dieses Grab lag mir am
Herzen, der halbe Tag war schon vergangen und meine geduldige Ursel wollte an
diesem Tag auch noch etwas mehr von Paris sehen. Gleich in der Nähe des Grabes
sah ich einen jungen Mann in schwarzer Kleidung, der langsam und im Einklang
mit dem Tao seine Tai-Chi-Übungen machte. Es war ein zarter und meditativer
Tanz über den Gräbern, ein Schattentänzer aus dem Osten, dessen Geist mich hier
anwehte. Das Grab von Marcel Proust war leicht zu übersehen, denn es war so
schlicht und einfach, nur eine schwarze und polierte Marmorplatte, die mit
einer zarten Goldschrift versehen war. Ein einsamer Blumentopf mit rot
leuchtenden Blüten stand darauf. Ich stand an diesem beinahe modern anmutenden
Grab und dachte an diesen romantischen Schriftsteller der Moderne, der mich in
meinem eigenen Schreiben so sehr inspiriert hatte. Er hatte immer nur in der
Dunkelheit bei Kerzenlicht geschrieben und die Protagonisten seiner Geschichten
hatten ihre Vorbilder überall in der Pariser Gesellschaft. Nachdem wir eine
kurze Weile an seinem Grab gestanden hatten, machten wir uns auf den Rückweg
zum Ausgang und begegneten dabei auch zwei anderen Touristen, die das Grab von
Marcel Proust suchten. Sie freuten sich, als wir ihnen weiterhelfen konnten und
dann verließen wir diese uralt anmutende Totenstadt mit den kleinen
Totenhäusern, die überall auf den kleinen Hügeln standen. Alles erinnerte mich
hier auch ein wenig an Höhlengräber in Israel, die ich so oft im Fernsehen
gesehen hatte.
Als
wir den Friedhof verlassen hatten, fanden wir ein paar Minuten später das Café
Renaissance, in dem sich die Doors-Fans trafen. Ich warf einen Blick in das Lokal,
sah einen blonden Mann vor der Theke stehen und einen Mann mit langen schwarzen
Haaren und einem schwarzen Doors-T-Shirt
an einem der Tische sitzen. Sonst war niemand zu sehen und es wurde auch
keine Doors-Musik gespielt, nur Jims Konterfei hing an den Wänden. Ich setzte
mich mit Ursel draußen vor das offene Fenster des Lokals, um mir noch einige
Notizen zu machen und derweil bestellten wir uns einen Espresso. Die
Mittagssonne schien uns hell ins Gesicht. Die Straße wirkte trostlos und öde.
Vereinzelte Passanten flanierten an uns vorbei. Bald sah Ursel auf die Uhr und
im Lokal herrschte Stille. Ich ging hinein, um ein wenig auf Tuchfühlung zu
gehen und die Rechnung zu bezahlen, als der interessant aussehende Mann mit dem
schwarzen T-Shirt temperamentvoll und mit französischen Akzent nach mir rief:
»Please, Maria Callas, bevore you go, give me a kiss!« Ich musste schmunzeln
und fühlte mich auch ein wenig geschmeichelt, denn Maria Callas ist eine echte
Persönlichkeit mit interessanten Gesichtszügen gewesen. Eine echte Diva!
Wahrscheinlich hatten mein schwarzer Haarreif und mein schwarzer Kajal-Stift
diese Assoziation ausgelöst. Ich ging auf den so lebendig wirkenden Mann zu und
küsste ihn zuerst auf die linke und dann die rechte Wange, die er mir
demonstrativ entgegen hielt. Der Wirt und der blonde Gast am Tresen amüsierten
sich über diese temperamentvolle Szene. Sogleich wurde ich dann mit sprudelnden
Worten ausgefragt, ob ich ein Doors-Fans sei, woher ich denn käme, ob ich den
Bildband kenne, den er vor sich liegen habe, ob er mir seine Adresse mitgeben
dürfe, ob ich ihm schreiben oder ihn anrufen würde, ob er mir die oberen Räume
zeigen dürfe, in denen Jim Morrison sich aufgehalten hätte und in denen nun ein
kleines Museum eingerichtet sei. Er wolle mir dort die Bilder und Bücher
zeigen, die man dort zusammengetragen hätte. Nur schwer konnte ich ihm
klarmachen, dass meine Begleiterin sich wohl nicht den halben Tag Zeit nehmen
wollte, um hier alles zu erkunden - und noch weniger konnte ich ihm erklären,
dass mir in diesem Moment gar nicht danach zu Mute war, denn tief in meinem
Inneren wollte ich hier in Paris nicht die toten Dinge betrachten, die Jim
Morrison hinterlassen hatte, sondern ich wollte die Wege erforschen, die der
Lebendige in dieser Stadt gefunden hatte. Sein Grab war mir nun Totengeist
genug gewesen. Schnell und mit ausladenden Gesten versuchte ich, ihm meine Zeitnot
zu erklären, als Ursel auch schon im Eingang stand, die Szene staunend betrachte
und freundlich zum Aufbruch mahnte. Als wir draußen waren, äußerte sie den
Verdacht, dass dieser »Filou« mich wohl mit vielen Tricks in die oberen
Schlafräume locken wollte, was mich total amüsierte und herzlich zum Lachen
brachte.
Nach
diesem Erlebnis fuhren wir mit der Metro zurück, um die Kirche Sacre Coer zu
besichtigen. Wir stiegen die vielen weißen Stufen hinauf, setzten uns dort in
einen kleinen Seitenpark in der Umgebung der Kirche, um die Stille und das
Plätschern eines Springbrunnens zu genießen, während wir einen kleinen Imbiss
zu uns nahmen. Das Innere der Kirche war dann ein ganz besonderes Erlebnis. Am
Eingang wurden die Stille und das Schweigen von einem Wächter leise und mit
aller Eleganz bewahrt. Es war den vielen Touristen nicht erlaubt, hier mit
ihren Blitzlichtgewittern zu fotografieren. Das Kirchenschiff war hell und
schlicht und voller Ästhetik. Der große Blickfang über dem weißen Altar war ein
goldenes Deckengemälde, das den Christus mit ausgestreckten Armen zeigte, als
wolle er die Menschheit umarmen. Sechs schlanke Kerzen leuchteten hell auf dem
Altar neben dem schlichten Kreuz. Es gab
in dieser Kirche einen kleinen Raum, in dem sich eine Nonne unermüdlich und mit
viel Hingabe die Sorgen und Nöte der Menschen anhörte. Sie war für alle
Menschen da, um sie spirituell zu beraten. Im Vorbeigehen sah ich, dass sie
gerade mit einer jungen Frau in ein Gespräch vertieft war. Ein junger Mann
betete vor dem Altar mit erhobenen Armen. Als wir wieder in das Tageslicht
hinaustraten, entdeckte ich an der Mauer der Kirche überall das kleine
Konterfei von Jim Morrison, das hier wohl mit einer Schablone an die Wand
gesprüht worden war. Unter der Kirche gab es einen kleinen Park mit einer
Kindereisenbahn und ein altes Karussell. Wir füllten unsere Wasserflasche an
einem Brunnen auf und gingen dann ins Künstler-Viertel. Ein Chor probte unten
in der Ferne und überall hörten wir Kinderstimmen. Man sah hier viele junge
Menschen, viele Kinder und schwangere Frauen.
Im
Künstler-Viertel sah man die Maler und Portraitisten bei der Arbeit. In den
Bars und Restaurants tobte das Leben und überall sah man Touristen. Wir nahmen
eine kleine Mahlzeit zu uns und tranken ein großes Glas Apfelwein, das uns auf
dem Rückweg ein wenig beschwipst machte. Als wir wieder zurück zu den Stufen
von Sacre Coer kamen, hatten sich hier schon viele junge Menschen versammelt,
um den Sonnenuntergang und das Angehen der Lichter über der Stadt zu erwarten.
Es herrschte eine fröhliche und heitere, ja beinahe eine heilige Stimmung. In
diesem Moment fühlte ich mich in die gute alte Hippiezeit versetzt. Alle
Menschen saßen friedlich auf den Stufen beieinander, als der Mond schon
aufgegangen war und auf das schwarze Kleid der Nacht wartete. Mitten auf den
Stufen saß ein junger Mann mit schwarzem Kraushaar, der den Versammelten mit
schöner Stimme die Songs »Sexual Feeling « und »Knocking on Heavens Door« von
Bob Dylan vortrug. Es war eines der Lieblingslieder meines verstorbenen Mannes
und ich musste voller Liebe an ihn denken. Auf den Treppen spielten zugleich
die Kinder und die Jongleure zeigten ihre Kunststücke. Die Touristen schickten
die Blitzlichter der Kameras in den Abendhimmel, der so viel Schönes versprach.
Ursel nahm mich in den Arm und ich war so glücklich und dankbar, dass wir in
diesem Moment beisammen waren. Es gab Beifall für die Musik und die Eisenbahn
mit den Kindern fuhr an uns vorbei. Immer mehr Menschen zog es an diesen Ort.
Langsam gingen die Lichter an, als der Mond im Südosten stand. Die Stadt
tauchte in ein sanftes Rosa. Ursel erzählte mir, dass sie früher auch einmal
Gitarre gespielt hat. Der Eiffelturm funkelte hinter den Bäumen. Bald glitzerte
die weiße Stadt im Lichtermeer. Als wir
diesen Anblick genug ausgekostet hatten, fuhr Ursel mit der kleinen Zahnradbahn
den Hügel hinunter, während ich lieber laufen wollte. Am späten Abend machten
wir dann noch einen Bummel über den Boulevard de Clichy, bewunderten das kleine
gemütliche Stadtviertel, über das Henry Miller so hautnah berichtet hatte,
eroberten auf langen und breiten Straßen Pigalle, dieses Viertel, das ein wenig
an den Hamburger Kiez erinnert, nur war hier alles ein wenig feiner und
eleganter. Die rote Lichtmühle des Moulin Rouge strahlte im Nachthimmel und der
Place de Clichy war zu dieser Stunde voller Leben. Todmüde und mit schmerzenden
Füßen fielen wir an diesem späten Abend ins Bett.
Am
nächsten Tag betrachteten wir den Louvre. Es war ein imposantes Gebäude, das
eine große Ruhe ausstrahlte. Ein kleiner Roboter putzte die Glaspyramide im
Vorhof. Eine lustige Anekdote besagt, dass diese Glaspyramide der teuerste
Eingang der Welt ist. Mitterand gab so viele monumentale Bauten in Auftrag,
dass man ihm den Spitznamen Mitteramses gab. Ursel zückte hier ihren
Fotoapparat und ich staunte über die große Menschenmasse, die im Inneren der Pyramide
den großen Schätzen entgegenstrebte. An diesem Tag besuchten wir auch die
Kirche der Maria Magdalena. Hier machte ich eine interessante Entdeckung, die
den Leser des Bestsellers »Sakrileg« von Dan Brown vielleicht neugierig macht.
Ich saß inmitten des schönen Kirchenschiffes und versenkte mich in die Stille.
Kurze Zeit später wanderte mein Blick auf die linke Seite und dort entdeckte
ich eine weiße Statue. Es war eine Frau, die ein Kind im Arm hielt. Sie zeigte
mit dem Finger auf das Kind und mit ihrem rechten Fuß zertrat sie das Haupt
einer Schlange. Nun sollte man glauben, dass es sich dabei um die Jungfrau
Maria mit dem Jesuskind handelt. Ich erblickte aber dort in meiner
Versunkenheit die Jüngerin Maria Magdalena. Auf der rechten Seite war die weiße Statue des Christus zu
sehen. Er streckte ihr die Hände entgegen, als wolle er sie und das Kind in die
Arme nehmen.
Am
Nachmittag eroberten wir dann den Eiffelturm. Unendlich viele Touristen hatten
sich hier versammelt. Obwohl es schon September war, brannte die Sonne
unerbittlich über unseren Köpfen, als wir in der großen Warteschlange standen.
Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis der Fahrstuhl kam, der uns an die Spitze
des Turms bringen sollte. In der Wartezeit besprühten uns Windmaschinen mit
Wasser, um Ohnmachtsanfällen vorzubeugen. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis
wir die erste Aussichtsplattform und dann den Gipfel erreichten. Dort oben war
ein winziges Museum eingerichtet. Zwei Wachsfiguren, die erschreckend echt
aussahen, bedienten hinter einer Glaswand ein Funkgerät. Die Pariser wollten
hier an die Geschichte des Turms erinnern, denn wenn der Turm wegen seiner Höhe
als Funkstation nicht so wichtig gewesen wäre, hätte man ihn schon lange
abgerissen. Ursel staunte über die Architektur dieses Bauwerks. Als Fliegerin
war sie auch absolut hingerissen von dem schönen Ausblick über die große weiße
Stadt mit ihrem großen Ausflugswald, der die Strapazen des Aufstiegs vergessen
lässt. Als wir wieder unten waren, erholten wir uns noch eine kleine Weile im
angrenzenden Park. Ursel machte ein kleines Schläfchen.
Auf
dem Rückweg kamen wir am Invalidendom vorbei. Ein goldener Prachtbau, in dem
Napoleons Gebeine ihre letzte Ruhe fanden. Dahinter war ein Garten mit einem
Krankenhaus zu finden, in dem die Invaliden immer noch gepflegt wurden. Pfleger
und ältere Patienten saßen hier auf den Bänken und die Kinder spielten mit
einem Ball. Hier war wieder alles so friedlich und die Sonne schien durch die
Bäume. Im Cartier Latin setzten wir uns in eine Bar. Die vornehme Dame neben
mir legte entspannt die Füße auf einen Stuhl und rauchte eine Zigarette,
während sie sich mit ihrem Nebenmann unterhielt. Hier war alles entspannt und
leger. Die Sonne schien auf die Fassade gegenüber und ich hörte den Singsang
der französischen Sprache, während ich die gelöste Atmosphäre genoss und mit
Ursel plauderte. Gegen Abend kamen wir an einer Galerie vorbei, die Werke von
Rodin ausstellte. Im Schaufenster sah ich eine Miniaturausgabe des Denkers und
einen Tänzer. Rodin ist für mich einer der größten Bildhauer unter der Sonne
und er war der Wegbereiter der Moderne. Wir hätten dieses kleine Museum gern
besucht, aber die Sonne ging schon unter und die Räume wurden im Vorbeigehen
gerade geschlossen. Wir betrachteten an diesem Abend auch noch das Café Deux
Margots und das Café de Flore, diese berühmtesten aller Pariser Cafés, deren
Ambiente uns sehr beeindruckte.
Am
nächsten Tag war ich wieder etwas aufgeregt, denn wir wollten am Nachmittag in
das Marais-Viertel gehen, wo Jim Morrison gelebt hatte. Zuerst aber besuchten
wir die Kirche St. Eustache, die der Musik geweiht war. Ursel interessierte
sich sehr für dieses Bauwerk, weil diese Kirche im Anbau Jugendstilelemente
enthielt. Im Inneren entdeckte ich ein Kunstwerk von dem Graffiti-Künstler
Keith Haring. Eine kleine Tafel erklärte, dass dieses Kunstwerk von John Lennon
und Yoko Ono der Kirche gespendet worden war. Im Vorplatz der Kirche war ein
riesiger Steinkopf zu finden, dessen Ohr ganz offen war. Davor eine riesige
Hand aus Stein, in der ein spielendes Kind sich geborgen fand. In diesen Stein
war der Name Henry de Miller eingraviert. Ich fragte mich, ob der
Schriftsteller Henry Miller, der ja auch gemalt hatte, die Vorlage für dieses
wunderbare Kunstwerk geliefert hatte oder ob es sich dabei um einen
Namensvetter handelte. Der Himmel war an diesem Tag leicht bewölkt und eine
leichte Melancholie legte sich über Paris. Nachdem wir auch die Börse
besichtigt hatten, gingen wir zum Centre Pompidou. Vor dem Eingang des modernen
Kunsttempels hatten sich Sänger aus der Mongolei versammelt, um ihren
schamanischen Obertongesang den Touristen vorzutragen, die erstaunt zuhörten
und ihre Fotoapparate zückten. Wir betrachteten die bunten Nana-Figuren, die
über einem kleinen künstlichen See schwebten. Danach schlenderten wir durch das
Marais. Bald konnte ich nachvollziehen, warum sich Jim Morrison gerade hier
niedergelassen hatte. Hier gab es die schönsten Geschäfte und kleine Buchläden,
in denen man stundenlang stöbern konnte. Die Atmosphäre war hier besonders
angenehm, man spürte einfach, dass hier viele Intellektuelle lebten. Das
jüdische Viertel wirkte im ersten Augenblick sehr exotisch auf mich. Ich hatte
wirklich das Gefühl, mich von einer Sekunde auf die andere mitten in Israel zu
befinden. Überall sah man Männer in schwarzen Roben durch die engen Gassen laufen.
In den Schaufenstern wurde in jiddischer Sprache koscheres Essen angepriesen.
In einem kleinen Geschäft wurde sogar eine Thora-Rolle ausgestellt. Wir beschlossen,
dort in einem Lokal Falafel zu essen. Das Ambiente des Lokals erinnerte an eine
Höhle in der Wüste. Ein junger Israeli, der eine Kippa auf dem Hinterkopf trug,
bediente uns sehr höflich. Er hatte in diesem Restaurant sehr viel zu tun, aber
zwischendurch setzte er sich immer wieder an unseren Nebentisch und studierte
die heilige Schrift. Der Umschlag des kleinen Buches war mit hebräischen
Goldlettern verziert und der junge Mann verneigte sich rhythmisch während des
Lesens vor den heiligen Worten. Er konzentrierte sich immer wieder eine ganze
Weile auf die Worte des Herrn, den Ewigen, wie er auch im alten Testament und
der Thora genannt wird; dann stand er wieder vom Tisch auf und servierte den
Gästen die koschere Mahlzeit. Während wir noch aßen, kam ein orthodoxer Jude an
seinen Tisch, der schon ein wenig älter war, und beide erörterten leise das
Gelesene. Ich beobachtete, wie der junge Mann seine Kippa abnahm und sich
stattdessen den Hut des Lehrers aufsetzte, den er vorher ehrfurchtsvoll drehte
und berührte, bevor er ihn auf sein Haupt setzte. Nachdem die beiden einen
Abschnitt des Buches rezitiert hatten, setzte der Ältere wieder seinen Hut auf
und ging von dannen, während der Jüngere unsere Teller in die Küche brachte und
danach die Kasse bediente. Ich wunderte mich über dieses Ritual, denn im
Judentum haben die Hüte eigentlich keine religiöse Bedeutung, sie werden nur
getragen, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Träger des Hutes in Gedanken
auch immer bei Gott weilt, dessen Geist ja über seinem Haupte schwebt, während
er seine alltäglichen Pflichten erledigt. Mir kam dabei der Gedanke, dass es eigentlich schön
wäre, wenn alle Menschen sich während der Arbeit auch ein wenig auf Gott oder
die Stille besinnen würden, in der ein großer Friede wohnt. Als wir gegessen
hatten, gingen wir zum Place des Vosges, auf dessen Bänken Jim Morrison seine
Gedichte geschrieben hatte. Überall saßen Menschen auf dem Rasen und den
Bänken. In der Ferne hörten wir eine Violine. Auf dieser Bank sitzend fielen
mir einige Zeilen ein, als ich an Jim Morrison dachte:
Kommen
und Gehen &
das
Geflimmer der Stadt -
Worte
brauchen Zeit zum Fliegen –
Der
Rhythmus wird mit den leisen Klängen
eines
Meißels in den Stein geschlagen:
Die
Musik des Straßenverkehrs,
das
Surren der Menschenstimmen,
die
sich ins Zeitlose erheben.
Geburt
und Tod
so
dicht beieinander
und
du wartest
auf
die Sonne
in
der schillernden Haut
einer
Eidechse
Und
die Zeit vergeht
im
Sekundentakt
während
die Laternen
an
Spiralsäulen hängend
wie
Trauben am Rebstock
das
Innere erleuchten
Im
Inneren des Herzschlags
wo
das Singen beginnt
und
sich im Zeitlosen findet:
Sammlung
An-denken
Durchbruch
zur
Seite der Phantasmen
im
rauschenden Klang
Die
Welt ist Musik
im
Gleichklang der Liebe
Hörst
du die Violine &
den
Gesang der Freiheit?
Als
ich dieses Gedicht zu Papier gebracht hatte, entdeckten wir das Haus, in dem
Victor Hugo gelebt hatte. Sein Geist hatte hier wohl die Gedanken von Jim
Morrison verzaubert. Es dauerte nicht lange, bis wir Jims Wohnhaus erreichten.
Die Straße lag im Schatten und war von einer leichten Melancholie umgeben. Kein
Mensch war hier zu sehen und alle Fenster und Türen verschlossen. Eine dunkle
Wolke schwebte wie ein dunkler Hauch der Poesie über der Wohnung, in der Jim
Morrison in einer Badewanne gestorben war. In seinen Visionen und Liedern hatte
er diesen einsamen Tod gewählt, hatte sich den Tod zum Freund gemacht, weil er
sich mit dem Ende auseinandergesetzt hatte. Er hatte das Leben geliebt und in
jeder Form gefeiert und ausgekostet, aber am Ende konnte er es auch loslassen.
Seine Lieder aber gingen mir immer noch durch den Kopf, als ich das Fenster
seiner Wohnstatt betrachtete. Er hatte mich mit seiner Stimme in den Zeiten der
Trauer getröstet, weil er die sanfte Poesie der Klage, die großen Worte der
griechischen Tragödie, noch kannte. Er hatte die dunkle Seite des Mondes in die
Rockmusik eingebracht. Dafür war ich ihm immer noch dankbar. Am Ende dieses
Tages fuhren wir zum Place de la Bastille. Ursel interessierte sich sehr für
diesen geschichtsträchtigen Ort. Sie zeigte mir die Restmauer des alten
Gefängnisses und die Siegessäule mit dem goldenen Engel. Hier sahen wir auch
arme Berber, die sich auf alte Decken gelegt hatten und ihrem traurigen
Schicksal tapfer ins Auge sahen. Wir besichtigten auch das Denkmal auf dem
Place de la Republique. Ursel musste sich hier auf eine Verkehrsinsel stellen,
um ein Foto zu machen. Am späten Abend lud Ursel mich dann zu einem exzellenten
Mahl bei einem Italiener ein. Wir saßen an einem der voll besetzten Tische im
Freien und unter dem Tisch lag ein schöner Hund, der von einem eleganten
Franzosen oft gestreichelt wurde. Meine Tante war an diesem Abend sehr fröhlich
und genoss die französische Art, derweil sie mit dem italienischen Kellner ihre
Späße machte. Wir unterhielten uns lange über diese schöne Stadt und erkannten
dabei, wie nahe unsere Seelen sich waren.
Am
letzten Tag packten wir unsere Koffer und deponierten sie noch eine Weile im
Hotel. Nach dem Frühstück bewunderten wir die Galerie Lafayette und ich
bestaunte die prachtvolle bunte Kuppel in diesem Konsumtempel. Ursel wollte
diesen außergewöhnlichen Jugendstil unbedingt fotografieren. Niemals habe ich
schönere Kleider und schönere Stoffe in einem Kaufhaus gesehen. Danach gingen
wir in eine Kirche, in der viele Votivtafeln zu sehen waren. Ich spendete eine
Kerze und sprach ein kleines Gebet. Danach gingen wir durch die Galerie
Vivienne und bestaunten die besonderen Auslagen in den Schaufenstern. Hier gab
es auch viele antiquarische Bücher, die sehr selten und kostbar waren. Bald
darauf betraten wir eine Kirche, in der klassische Musik gespielt wurde und die
Menschen erholten sich dabei auf den Kirchenbänken von der Hektik des Alltags.
Wir tranken noch einen Café in einer der kleinen Bars am Straßenrand und ein
tibetischer Lama schlenderte in aller Gelassenheit an uns vorbei. Dies war der
Vorbote für eine gute Heimreise. Als wir mit unseren Koffern zum Bahnhof
liefen, verabschiedete ich mich von dieser schönen Stadt und war voller
Dankbarkeit, dass ich all diese schönen Augenblicke erleben durfte. Ich gab
Ursel einen Kuss auf die Wange. Auf dem Rückflug durfte ich die Welt noch
einmal von oben sehen. Als wir in Hamburg landeten, kam mir diese Stadt auf
einmal sehr klein vor. Aber nun konnte ich endlich verstehen, warum es sich
lohnte, auf den Spuren von Jim Morrison zu wandeln. Er hatte wohl ein echtes
Gespür für schöne Orte. Nun hatte ich endlich eine Rose auf sein Grab gelegt.
Ich kann nur jedem empfehlen, diese schöne Stadt zu besuchen. Sie öffnet den
Geist und die Sinne.