Paris

 

 

Am 4. September flog ich in den frühen Morgenstunden mit meiner Tante Ursel nach Paris. Als wir auf dem riesigen Flughafen Charles de Gaulle landeten, empfing uns ein kleiner Nieselregen. In Hamburg hatte es die letzten Tage wieder einmal in Strömen geregnet, deshalb konnte uns das Wetter nicht schrecken. Ursel ist eine sehr gute Pilotin (sie fliegt einen Motorsegler) und während wir noch auf dem langen Rollband durch die große Flughalle schwebten, war sie immer noch ganz begeistert von den Dimensionen dieses Flughafens. Sie erklärte mir, dass die Terminals hier eine ganze Metro-Station auseinander liegen, während man in Hamburg von Terminal 1 zu Terminal 2 nur ein paar Schritte gehen muss. Als wir die großen Flughafenhallen durchschritten hatten, fanden wir auch gleich den Zug, der uns mitten in das Herz von Paris bringen sollte. Nach einer längeren Fahrt landeten wir im Bahnhof Gare Du Nord. Um den Bahnhof herum hockten die Berber und Bettler. Die übel riechenden Ecken wurden anscheinend mit einem sehr süßlichen Parfüm besprüht, anders konnten wir uns diesen Wohlgeruch nicht erklären, der sich hier in die Pariser Luft erhob. Wir waren nur über eine Hauptstraße gegangen, und dann in eine kleine Seitenstraße eingebogen, als Ursel in den Stadtplan sah, um die Straße unseres kleinen Hotels - nicht weit entfernt von der Kirche Sacre Coeur - zu suchen, als ich mich auch schon in diese Stadt verliebt hatte. Ein ganz leichter Sprühregen erfrischte uns in dieser leichten und warmen Luft, die Menschen schritten leicht und locker durch die engen Gassen – und die lichten Häuser aus Sandstein mit ihren schwarzen Ziergittern unter den Fenstern, erinnerten mich gleich an all die großen Künstler, die in dieser Stadt gelebt hatten. Unser Hotel Marena lag schon etwas steil bergauf unter dem großen Hügel der Kirche, die man aber von hier aus noch nicht erblicken konnte. Hinter dem Empfangstresen des Hotels begrüßte uns ein Franzose, der etwas übermüdet wirkte. Mit höflichen Worten überreichte er uns die Schlüssel. Unser Zimmer mit Bad war klein, aber sehr komfortabel. Nachdem wir uns frisch gemacht hatten, führte uns der erste Weg gleich an die Seine. Ursel war mit einem Stadtplan und mit einem Plan der Metro bewaffnet, außerdem hatte sie sich auf diese Reise mit ihrem Organisationstalent ausreichend vorbereitet, deshalb konnte auf dieser Reise eigentlich nichts schief gehen.

 

Die Seine floss majestätisch und in aller Ruhe und Gelassenheit dahin, die Brücken schienen alle in ein Märchenland zu führen, und Notre Dame thronte in vornehmer Blässe in ihrem verzierten Gewande unter dem hellblauen Himmel in der Ferne, als ginge sie der Alltag nichts an. Einige Bouquinisten hatten ihre Schatztruhen geöffnet und hier erblickte ich auch gleich ein kleines Poster von Jim Morrison, das Foto vom jungen Löwen, das hier für nur zwei Euro verkauft wurde. Gleich am ersten Tag begrüßte mich das vertraute Gesicht in dieser Stadt und der Bouquinist strahlte mich an, als ich mich über den günstigen Preis für den schönen Druck freute, und er sagte mit charmanter Geste: » Ja, so bin ich! « Bei den anderen Bouquinisten waren neben Kitschartikeln auch wertvolle alte Stiche und antiquarische Bücher der großen französischen Schriftsteller zu finden. Um hier zu stöbern hätte man sehr viel Zeit benötigt.

      

Meine bunten Erinnerungen an Paris überschlagen sich in meinem Kopf und deshalb will ich einfach von den großartigen Momenten berichten, die mir in den Sinn kommen, ohne auf die Chronologie der Reise so viel Rücksicht zu nehmen. Ich erinnere noch:

 

Wir besichtigten Notre Dame von innen und ich staunte über die Helle, dem Licht in dieser Kirche. Ich erblickte die edle, elfenbeinfarbene Pieta aus weiter Ferne und bestaunte die Ornamente, die sich um die leuchtenden Blütenfenster rankten. In St. Michel betrachteten wir den schönen Brunnen mit dem Erzengel, an dessen Wasserbecken überall die jungen Menschen und Studenten saßen. Die Atmosphäre war entspannt und fröhlich. Die Bistros und Bars klebten nebeneinander, alle mit offenen Fenstern zur Straße hin. Die weinroten und flaschengrünen Farben der Markisen, die mit den schönsten Goldschriften verziert waren, die leuchtenden Farben der kleinen Geschäfte, all dies verlieh dieser Stadt ihren vornehmen, aber dabei auch unaufdringlichen Charakter. Wir besichtigten auch das Pantheon von außen, ein großer und imposanter Bau, der Geschichtsliebhabern viel erzählen kann. Inzwischen war es sonnig in Paris geworden. Am Eingang des Jardin du Luxembourg flanierten junge Mädchen aus den grünen Rundbögen, die an den Spitzen gebogene Sonnenschirme über die Schultern hielten, als wären sie einem Bild von Seurat oder Monet entsprungen. Ich erinnere mich auch an das Bild eines überirdischen Wesens, das sich bei näherem Hinsehen als ein Transsexueller entpuppte. Er trug eine blonde Perücke  und darüber einen goldenen Seidenhut, die Krempe so groß wie ein Wagenrad, die mit den schönsten Seidenrosen geschmückt war. Das goldene Seidenabendkleid schmiegte sich an die Wespentaille und fiel am Saum wie Seerosenblätter über die glitzernden Stöckelschuhe. Die vorübergehenden Pariser blieben stehen und hielten für einen Moment die Luft an, dann sagte eine Frau: »Seht nur, wie schön! « Ursel hätte bei diesem Anblick am liebsten noch gleich die Kamera gezückt, aber da war dieses Wesen schon vornehmen Schrittes weggestöckelt, und ich dachte, ich hätte nur geträumt. Worte reichen nicht aus, um diesen Moment zu beschreiben. In meiner Heimatstadt Hamburg kann man auch viel erleben, aber so eine traumhafte Situation ist nur in Paris möglich.

 

Das Gefühl, sich durch einen Traum zu bewegen, verstärkte sich im Jardin du Luxembourg ganz ungeheuer. Ich sah die Palmen vor dem plätschernden Wasserbecken vor dem hellen Schloss mit der wehenden Fahne, die blauen und violetten Blumenbeete vor den weißen Skulpturen, im Himmelblau lugte die Spitze des Eiffelturms hervor. Friedlich schlenderten die Menschen durch diesen Garten oder sie entspannten sich in den Stühlen und lasen ein Buch. Ursel machte bald ein Schläfchen im Gartenstuhl und die Spatzen hüpften durch die Kugelbäume. Ich hörte das Gemurmel der vielen Menschen, das Pfeifen eines Vogels und Kinderstimmen, den Ruf der Enten. Es war wie im Paradies.

 

Kurz vor Sonnenuntergang waren wir am Place de la Concord. Der Platz war gigantisch groß. Die vielen  Dimensionen der französischen Geschichte hatten hier ihre Schwingungen hinterlassen. Auf diesem Platz wurde Robespierre enthauptet und hier starben König Ludwig und Marie Antoinette. Vielleicht waren mir die Schwingungen deswegen an diesem Verkehrsknotenpunkt etwas unheimlich. Wir betrachteten die prächtigen Brunnen und den vergoldeten Obelisken, er verzierte einst den Tempel von Luxor. Der Kreisverkehr führte zum Triumphbogen - und als die Sonne langsam unterging, sah man die vielen roten Lichter der Autos in der Luft glitzern und flimmern. Hier war mir beinahe alles ein wenig zu prächtig und zu groß. Sternenförmig führten die großen Prachtstraßen zum Triumphbogen, der einst Napoleons Triumphzüge glorifizierte. Als die Sonne untergegangen war, fuhren wir mit der Metro zurück zu unserem Hotel. Die U-Bahn verkehrte hier alle zwei Minuten und die tiefen Tunnel waren hier dunkel und unheimlich. Ich war ganz froh, als wir wieder an die Oberfläche kamen. Wir aßen noch eine herrliche Dahlsuppe in einem kleinen indischen Restaurant, das ganz in der Nähe des Hotels lag. Hier konnte man noch an einem Tisch auf der Straße sitzen und ich unterhielt mich noch angeregt mit Ursel, bis wir müde waren.

 

Am nächsten Morgen hatten wir das Frühstück im Hotel verschlafen. Wir gingen in den kleinen Tabakladen, der direkt neben unserem Hoteleingang lag. Dort kaufte ich mir eine Schachtel französische Zigaretten und bemerkte, dass es hier auch gut duftenden Kaffee gab. In diesem kleinen Laden gab es auch kleine Tische und Korbstühle, also beschlossen wir, hier unser Frühstück einzunehmen. Ich bestellte etwas vorschnell ein Crossoint bei dem freundlichen Besitzer, bemerkte dabei aber leider zu spät, dass es hier nichts zu verzehren gab. Aber da schickte der Tabakmann schon seine hübsche Gehilfin über die Straße, die mir in der kleinen Bäckerei gegenüber ganz geschwind das Gewünschte kaufte, um es mir sogleich in einer Serviette auf den Tisch zu legen. Ich bedankte mich überschwänglich und war erstaunt über diese zuvorkommende Geste. Die Franzosen waren wirklich überaus freundlich. Als wir den herrlichen Kaffee getrunken hatten, war ich ein wenig aufgeregt, denn unser nächstes Ziel sollte Jim Morrisons Grab auf dem berühmten Friedhof Père Lachaise sein. Wir kauften uns schnell noch ein herrliches Baguette mit Oliven, bevor wir wieder in die tiefen Tunnel der Metro eintauchten. In Jan-Erik Hubeles Buch »Zwischen Himmel und Hölle. Jim Morrison in Paris« hatte ich gelesen, dass Jim Morrison diese dunklen Tunnel auch immer unheimlich gewesen waren. Er ging lieber zu Fuß. Nun bewegte ich mich auch in dieser Stadt und konnte diese leichte Angst gut nachvollziehen. Jede U-Bahnstation war hier anders und sehr anregend gestaltet. Eine dieser Stationen ist zum Beispiel mit unendlich vielen Kacheln verziert, auf denen nur Buchstaben zu sehen sind. Wenn man die ersten Stufen zur Metro hinab gestiegen ist, dann schickt man die Bahnkarte durch einen kleinen Schlitz, muss sich dann in Windeseile durch die verzahnte Sperre quetschen, um dann blitzschnell die Karte aus dem nächsten Schlitz wieder in Empfang zu nehmen. Wenn man die unterirdischen Gefilde wieder verlassen will, muss man schnell durch eine kleine Tür, die sich nur in Richtung Ausgang öffnet. Trotzdem gibt es in den Bahnhöfen Fahrkartenkontrollen. Das System war bombensicher, aber es taugte absolut nicht für eine Massenpanik. Aus diesem Grunde fühlte ich mich dort unten immer etwas unwohl. In den tiefen Tunneln wurden manchmal Reparaturen ausgeführt und dabei konnte man das nackte Höhlengestein sehen, aus dem ein wenig Wasser floss. Die Bahnen verschwanden im Eiltempo in den tiefschwarzen Tunneln, die ganz in der Ferne mit hellen Lampen beleuchtet waren, sie blinkten wie Sterne am nachtschwarzen Himmel. In der Bahn war es immer sehr eng, die Sitzgelegenheiten klein - und die Luft war stickig. Diesmal fuhren wir an der Station »Stalingrad« vorbei. Der Name weckte in mir Assoziationen an einen schrecklichen Krieg. Hier kam man für kurze Zeit an die Oberfläche und sah das spinnennetzartige Gewirr der vielen Schienen und Oberleitungen, die zwischen alten Häuserfronten eingekeilt waren. Nun kamen wir dem großen Geist der Toten immer näher und mir war es ein wenig unheimlich.

 

Als wir an der Station »Père Lachaise« ausstiegen und die Treppe hochgehen wollten, kauerte dort auf den Stufen – still wie eine Statue - eine ganz in schwarz gehüllte Gestalt.  Es war eine vollkommen vermummte muslimische Frau, die ihre Hand den Vorübergehenden  wie eine  Bettelschale entgegen hielt. Sie bewegte sich keine Sekunde, als wäre sie ein Denkmal in einer griechischen Tragödie, als wäre sie ein verstummtes Klageweib, das die Armut so vieler  Menschen in stiller Trauer und mit erfrorenen Tränen beweint.  Als wir dieser Unterwelt entronnen waren, strahlte der Himmel in seinem schönsten Blau. Die hohen und uralten Friedhofsmauern schlängelten sich windschief die Straße entlang. Gleich an der Straßenecke entdeckte ich den kleinen Blumenladen, den Jim Lizardking mir für den Kauf einer Rose empfohlen hatte. Ich wollte sie auf das Grab von Jim Morrison legen. In diesem kleinen Geschäft herrschte eine ruhige und angenehme Atmosphäre und es duftete nach den vielen edlen Rosen, die hier in allen Farben in den Vasen standen. Ich wählte eine weiße und sehr langstielige Rose für Jim Morrison. Die weiße Rose symbolisiert die Trauer und die Unschuld. Die Rose ist das Symbol des mystischen Christentums. Sie symbolisiert das weibliche Element und die Entfaltung in der Mitte des Kreuzes, dort wo der Dualismus (symbolisiert durch die beiden Balken) scheinbar aufgehoben ist. Die elegante Verkäuferin umwickelte mir den dornigen Stiel der Rose mit Aluminiumfolie und wünschte mir noch einen schönen Tag. Die Sonne schien an diesem Tag so herbstlich sanft, schmiegte sich wie Blattgold an die alte Mauer. Vor dem Eingang des Friedhofs entdeckte ich auch den kleinen Postkartenstand, auf den Jim Lizardking mich auch noch hingewiesen hatte. Hier gab es diese seltenen Postkarten von Jim Morrison und seinem Grab, die sonst nirgends zu finden sind. Eine freundliche, junge blonde Frau stand hier an diesem kleinen Stand und verkaufte mir zwei Postkarten mit sehr viel Liebe. Als wir den Nebeneingang des Friedhofs durchschritten und auf dem uralten Kopfsteinpflaster dem Pfad an der Mauer entlang folgten, da war ich von Ehrfurcht erfüllt. Ich betrat hier wirklich die Stadt der Toten, denn überall sah man die spitzen Dächer der Familiengräber, die wie verwaiste Geisterhäuser zwischen den alten Grabplatten hervorlugten. Am Haupteingang des Friedhofs sah ich eine Frau in Uniform, die schon einer kleiner Schar Fans folgte, die unschwer an ihren langen Haaren und den T-Shirts zu erkennen waren. Ursel war etwas erstaunt, dass sie alle mit uns auf dem Weg zu Jim Morrisons Grab waren, denn sie wusste nicht viel über diesen bis über den Tod hinaus geliebten Rockstar und Poeten. Sie hatte ihr ganzes Leben hart gearbeitet, gesellschaftliche Verpflichtungen gehabt, sich um ihre Kinder und die Familie gekümmert, aus diesem Grunde war der Zeitgeist manchmal an ihr vorübergegangen, obwohl sie sehr gebildet war und sie sich sozial und politisch sehr engagiert hatte. Anscheinend genoss sie diese kleine Pilgerschaft auf dem Friedhofsweg und ich war sehr glücklich, dass wir hier zusammen waren, denn Ursel hatte mir nicht nur diese Reise ermöglicht, sie war mir auch sehr ans Herz gewachsen. Eine wunderbare und kluge Frau mit einer großen Seele.

 

Wir folgten bald dem leicht gewunden Pfad, der zu dem runden Platz mit dem Grabdenkmal von Casimir Perier führte. Auf einmal lag ein herrlicher Blumenduft in der Luft. Überall standen bunte Blumenkränze auf dem Wege, die mit schmalen Trauerschleifen verziert waren. Sie waren mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt, die niemand entziffern konnte. Beim Denkmal setzte ich mich mit Ursel auf eine Bank, wir aßen unser Olivenbrot und sprachen über den Tod. Wir machten uns Gedanken darüber, was eigentlich von uns bleibt, wenn wir diese Erde verlassen haben. Ursel erzählte mir von den vielen Häusern, die mein Onkel gebaut hatte. Ursel ist nun auch schon längere Zeit Witwe. Mein Onkel ist ein sehr guter und bekannter Architekt gewesen. Er hat sich sein ganzes Leben Gedanken darüber gemacht, wie die Menschen sich in ihren vier Wänden wohl fühlen und sich entfalten können. Im Gegensatz zu mir glaubt Ursel nicht an eine Weiterexistenz nach dem Tode. Sie ist Atheistin. Sie glaubt, dass mit dem Tod alles zu Ende ist. In meinen Augen wäre ein Versinken in einen unendlichen Tiefschlaf, ein Verschmelzen mit dem Nichts, auch eine unendliche Gnade, an die ich aber nicht glauben kann. Ich glaube an den Energieerhaltungssatz. Ich glaube, dass in diesem Universum kein Elektron einfach verschwinden kann. Ich glaube, dass die menschliche Seele ein Bewusstsein hat, das mit dem Ewigen verbunden ist. Das Ewige liegt auch in jedem Augenblick, wie es die jüdischen und christlichen Mystiker formuliert haben. Das Ewige wird auch Gott genannt, dessen Namen man nicht aussprechen soll, von dem wir uns kein festes Bild machen sollen, weil unser Verstand das Ewige nicht fassen kann. Meine Vorstellung von einem Gott manifestiert sich nur in einer Liebe, die niemand wirklich beschreiben kann. In unserem Leben hat alles einen wiederkehrenden Rhythmus, auch wenn alles sich wandelt. Es gibt den Tag und die Nacht, unser reales Leben, das Reich der Träume und den Tiefschlaf, der uns für kurze Zeit von allem erlöst. Also warum sollte der Tod das Ende von diesen spiralförmigen Kreisläufen sein? In der Ewigkeit gibt es keinen Anfang und kein Ende. Sie liegt in jedem köstlichen Augenblick, ganz im Gegensatz zur Unendlichkeit, die eine Qual für das Bewusstsein wäre. Aber diese Gedanken führen zu nichts, weil niemand etwas beweisen kann. Ich glaube aber, dass wir alle auf dieser Erde sind, damit wir die Liebe im Strom der Zeit erfahren dürfen und sie in der Materie manifestieren können. Die Häuser und Wohnheime meines Onkels sind immer noch Stätten der Geborgenheit für die Menschen, die dort jetzt wohnen. Ursel wird immer an ihren Mann erinnert, wenn sie all die ästhetischen Gebäude betrachtet, die eine Stadt schöner machen. Ich musste auf dieser Bank auch  an meine verstorbene Mutter und meinen Mann denken. Meine Mutter liebte die Literatur und diese Liebe lebt in mir weiter. Mein Mann war ein Psychologe. Mit seiner Einfühlsamkeit hat er viele Menschen aufgerichtet und er hat sie auf den Weg gebracht. Viele Menschen erinnern sich voller Liebe an ihn.  Jim Morrison hinterließ uns schöne Melodien und Worte voller Poesie, ein großer Trost in einsamen Stunden.  Was wollen die Toten uns sagen? Man bedenke: Jede Tat und jeder Gedanke kann diesen Planeten schöner machen und jede Tat und jeder Gedanke kann auch etwas zerstören, das uns heilig sein sollte. Jeder Mensch ist ein Teil des Ganzen. Ursel und ich kamen zu dem Schluss, dass wir uns öfter fragen sollten, was von uns bleiben wird, wenn wir gegangen sind. Die Ideen, die Gedanken und die Taten der Menschen bleiben für eine lange Zeit lebendig, sie pflanzen sich in den Köpfen und Herzen der jungen Menschen fort. Sie bleiben erhalten in den Geschichten, die wir uns erzählen. Wie dann unser Grab aussehen wird, das ist relativ unwichtig. Es wird bleiben und wachsen, was wir gesät haben.

 

Langsam näherten wir uns dann Jim Morrisons Grab. Die Sonne schien durch die Blätter eines Baumes, ein goldener Schimmer lag über diesem friedlichen kleinen Ort, an dem sich schon eine bunte Schar junger Menschen versammelt hatte. Eine junge Frau fing die Szene mit einer Kamera ein, sie war mit einem langen Teleobjektiv bewaffnet. Ein junger Franzose stand vor der traurigen Absperrung direkt am Grab und sang ganz leise und andächtig »Light my Fire «, während seine Freundin der zarten Stimme und der schönen Melodie lauschte. Ein anderes Pärchen aus Österreich wartete hinter mir in einer kleinen Schlange, um auch einen Moment am Grab zu verweilen. Auf der linken Seite war das Grab mit einem weißroten Band abgesperrt, als wäre hier eine Baustelle. Auf dem Grabstein lag eine große Schriftrolle, darunter einige Blumen und Zettel. Ich warf meine Rose auf das Grab, sprach im Stillen ein kleines Gebet, machte ein Foto und ließ dann einen jungen Mann an die Reihe, der an seinem T-Shirt unschwer als Fan zu erkennen war. Ich hatte das gleiche Sammlermodell in meinem Kleiderschrank in Hamburg gelassen. Hinter den umliegenden Grabsteinen stand ein sehr interessant aussehender junger Mann, der mich ein wenig am John Lennon erinnerte, nur seine Gesichtszüge waren etwas weicher. Er beobachtete ganz ruhig das hier versammelte Völkchen. So wie er da gelassen hinter den Grabsteinen hervorlugte und sein schönes Gesicht mich an die gute alte Hippiezeit erinnerte, bat ich Ursel, ein Foto von ihm zu machen, weil die Batterie meines Fotoapparates gerade ihren Geist aufgegeben hatte. Wenige Minuten später kam er zu uns herüber und bat uns in einem höflichen Englisch, das Foto wieder zu löschen. Natürlich respektierten wir diesen Wunsch, aber ich war ein wenig enttäuscht, denn das Foto, das auf dem Display gleich zu sehen war, ist großartig geworden.

 

Nach diesem Besuch an Jims Grab schlenderten wir noch in aller Ruhe weiter über diesen einzigartigen Friedhof mit seiner uralten Aura. Wir fanden bald das Grab von Chopin - und während ich vor dem schönen Ziergitter mit den vielen bunten Blumen in den Vasen stand, hörte ich im Geiste sein zartes Klavierspiel an mir vorüberziehen. Warum konnte Jims Grab nicht so liebevoll umrandet und so gut gepflegt sein? Ich dachte an die vielen fruchtlosen Korrespondenzen, die der Fanclub mit der Friedhofsverwaltung geführt hatte. Alle Versuche, das Grab schöner zu gestalten, waren gescheitert, weil einige Fans keine Distanz halten konnten, auch die Würde der Toten nicht respektierten und sich an diesem Grab nicht liebevoll verhielten. Ich konnte die Empfindungen, die Jason Boiler, der Sänger von den Doors Experience, aufgrund der hässlichen Absperrung gehabt hatte, gut nachvollziehen. Jim Morrison war Zeit seines Lebens ein Freiheitsliebender gewesen, deshalb passte diese Aus- und Absperrung nicht zu einem amerikanischen Poeten und Musiker, der ebenso schöne Melodien wie Chopin in die Welt gesetzt hatte, nur waren sie eben für unseren Zeitgeist erschaffen worden. Warum mussten denn die Verehrer der klassischen Musik die größeren Feingeister sein? Diese Gedanken machten mich ein wenig traurig, während ich diese Frühlingspracht in den Grabvasen von Chopin bewunderte. Wie liebevoll wurde hier dieser unsterblichen Musik gehuldigt.

 

Auf dem weiteren Wege besuchten wir auch die Gräber der anderen großen Geister, die sich hier im Tode versammelt hatten: Sarah Bernhardt, Simone Signoret und Yves Montand, Gertrude Stein, Edith Piaf. Wir sahen die große Büste von Balzac und das Grabmal von Molière, bis wir zum Columbarium kamen. Hier fanden die Leichenverbrennungen statt und die Urnen wurden an diesem Ort in kleinen Fächern aufbewahrt. Wir suchten die Urne von Maria Callas, aber fanden sie nicht, weil sie nur vorübergehend dort aufbewahrt wurde. Gleich neben dem Columbarium sollte sich das Grab von Marcel Proust befinden, aber nach längerem Herumirren war unsere Suche erfolglos geblieben. Das Grab war in dem Friedhofsplan falsch eingezeichnet. Ich befragte einen älteren Mann, der hier gerade ein Grab pflegte. Trotz meiner miserablen Französischkenntnisse hatte er mich verstanden, denn das Wort Marcel Proust entlockte ihm ein verständnisvolles Lächeln. Er sagte, wir sollten uns ein wenig mehr nach links halten, das Grab wäre ganz in der Nähe. Nach kurzem Suchen hatten wir es dann auch endlich gefunden. Ich war froh darüber, denn dieses Grab lag mir am Herzen, der halbe Tag war schon vergangen und meine geduldige Ursel wollte an diesem Tag auch noch etwas mehr von Paris sehen. Gleich in der Nähe des Grabes sah ich einen jungen Mann in schwarzer Kleidung, der langsam und im Einklang mit dem Tao seine Tai-Chi-Übungen machte. Es war ein zarter und meditativer Tanz über den Gräbern, ein Schattentänzer aus dem Osten, dessen Geist mich hier anwehte. Das Grab von Marcel Proust war leicht zu übersehen, denn es war so schlicht und einfach, nur eine schwarze und polierte Marmorplatte, die mit einer zarten Goldschrift versehen war. Ein einsamer Blumentopf mit rot leuchtenden Blüten stand darauf. Ich stand an diesem beinahe modern anmutenden Grab und dachte an diesen romantischen Schriftsteller der Moderne, der mich in meinem eigenen Schreiben so sehr inspiriert hatte. Er hatte immer nur in der Dunkelheit bei Kerzenlicht geschrieben und die Protagonisten seiner Geschichten hatten ihre Vorbilder überall in der Pariser Gesellschaft. Nachdem wir eine kurze Weile an seinem Grab gestanden hatten, machten wir uns auf den Rückweg zum Ausgang und begegneten dabei auch zwei anderen Touristen, die das Grab von Marcel Proust suchten. Sie freuten sich, als wir ihnen weiterhelfen konnten und dann verließen wir diese uralt anmutende Totenstadt mit den kleinen Totenhäusern, die überall auf den kleinen Hügeln standen. Alles erinnerte mich hier auch ein wenig an Höhlengräber in Israel, die ich so oft im Fernsehen gesehen hatte.

     

Als wir den Friedhof verlassen hatten, fanden wir ein paar Minuten später das Café Renaissance, in dem sich die Doors-Fans trafen. Ich warf einen Blick in das Lokal, sah einen blonden Mann vor der Theke stehen und einen Mann mit langen schwarzen Haaren und einem schwarzen Doors-T-Shirt  an einem der Tische sitzen. Sonst war niemand zu sehen und es wurde auch keine Doors-Musik gespielt, nur Jims Konterfei hing an den Wänden. Ich setzte mich mit Ursel draußen vor das offene Fenster des Lokals, um mir noch einige Notizen zu machen und derweil bestellten wir uns einen Espresso. Die Mittagssonne schien uns hell ins Gesicht. Die Straße wirkte trostlos und öde. Vereinzelte Passanten flanierten an uns vorbei. Bald sah Ursel auf die Uhr und im Lokal herrschte Stille. Ich ging hinein, um ein wenig auf Tuchfühlung zu gehen und die Rechnung zu bezahlen, als der interessant aussehende Mann mit dem schwarzen T-Shirt temperamentvoll und mit französischen Akzent nach mir rief: »Please, Maria Callas, bevore you go, give me a kiss!« Ich musste schmunzeln und fühlte mich auch ein wenig geschmeichelt, denn Maria Callas ist eine echte Persönlichkeit mit interessanten Gesichtszügen gewesen. Eine echte Diva! Wahrscheinlich hatten mein schwarzer Haarreif und mein schwarzer Kajal-Stift diese Assoziation ausgelöst. Ich ging auf den so lebendig wirkenden Mann zu und küsste ihn zuerst auf die linke und dann die rechte Wange, die er mir demonstrativ entgegen hielt. Der Wirt und der blonde Gast am Tresen amüsierten sich über diese temperamentvolle Szene. Sogleich wurde ich dann mit sprudelnden Worten ausgefragt, ob ich ein Doors-Fans sei, woher ich denn käme, ob ich den Bildband kenne, den er vor sich liegen habe, ob er mir seine Adresse mitgeben dürfe, ob ich ihm schreiben oder ihn anrufen würde, ob er mir die oberen Räume zeigen dürfe, in denen Jim Morrison sich aufgehalten hätte und in denen nun ein kleines Museum eingerichtet sei. Er wolle mir dort die Bilder und Bücher zeigen, die man dort zusammengetragen hätte. Nur schwer konnte ich ihm klarmachen, dass meine Begleiterin sich wohl nicht den halben Tag Zeit nehmen wollte, um hier alles zu erkunden - und noch weniger konnte ich ihm erklären, dass mir in diesem Moment gar nicht danach zu Mute war, denn tief in meinem Inneren wollte ich hier in Paris nicht die toten Dinge betrachten, die Jim Morrison hinterlassen hatte, sondern ich wollte die Wege erforschen, die der Lebendige in dieser Stadt gefunden hatte. Sein Grab war mir nun Totengeist genug gewesen. Schnell und mit ausladenden Gesten versuchte ich, ihm meine Zeitnot zu erklären, als Ursel auch schon im Eingang stand, die Szene staunend betrachte und freundlich zum Aufbruch mahnte. Als wir draußen waren, äußerte sie den Verdacht, dass dieser »Filou« mich wohl mit vielen Tricks in die oberen Schlafräume locken wollte, was mich total amüsierte und herzlich zum Lachen brachte.

 

Nach diesem Erlebnis fuhren wir mit der Metro zurück, um die Kirche Sacre Coer zu besichtigen. Wir stiegen die vielen weißen Stufen hinauf, setzten uns dort in einen kleinen Seitenpark in der Umgebung der Kirche, um die Stille und das Plätschern eines Springbrunnens zu genießen, während wir einen kleinen Imbiss zu uns nahmen. Das Innere der Kirche war dann ein ganz besonderes Erlebnis. Am Eingang wurden die Stille und das Schweigen von einem Wächter leise und mit aller Eleganz bewahrt. Es war den vielen Touristen nicht erlaubt, hier mit ihren Blitzlichtgewittern zu fotografieren. Das Kirchenschiff war hell und schlicht und voller Ästhetik. Der große Blickfang über dem weißen Altar war ein goldenes Deckengemälde, das den Christus mit ausgestreckten Armen zeigte, als wolle er die Menschheit umarmen. Sechs schlanke Kerzen leuchteten hell auf dem Altar neben dem schlichten Kreuz.  Es gab in dieser Kirche einen kleinen Raum, in dem sich eine Nonne unermüdlich und mit viel Hingabe die Sorgen und Nöte der Menschen anhörte. Sie war für alle Menschen da, um sie spirituell zu beraten. Im Vorbeigehen sah ich, dass sie gerade mit einer jungen Frau in ein Gespräch vertieft war. Ein junger Mann betete vor dem Altar mit erhobenen Armen. Als wir wieder in das Tageslicht hinaustraten, entdeckte ich an der Mauer der Kirche überall das kleine Konterfei von Jim Morrison, das hier wohl mit einer Schablone an die Wand gesprüht worden war. Unter der Kirche gab es einen kleinen Park mit einer Kindereisenbahn und ein altes Karussell. Wir füllten unsere Wasserflasche an einem Brunnen auf und gingen dann ins Künstler-Viertel. Ein Chor probte unten in der Ferne und überall hörten wir Kinderstimmen. Man sah hier viele junge Menschen, viele Kinder und schwangere Frauen.

 

Im Künstler-Viertel sah man die Maler und Portraitisten bei der Arbeit. In den Bars und Restaurants tobte das Leben und überall sah man Touristen. Wir nahmen eine kleine Mahlzeit zu uns und tranken ein großes Glas Apfelwein, das uns auf dem Rückweg ein wenig beschwipst machte. Als wir wieder zurück zu den Stufen von Sacre Coer kamen, hatten sich hier schon viele junge Menschen versammelt, um den Sonnenuntergang und das Angehen der Lichter über der Stadt zu erwarten. Es herrschte eine fröhliche und heitere, ja beinahe eine heilige Stimmung. In diesem Moment fühlte ich mich in die gute alte Hippiezeit versetzt. Alle Menschen saßen friedlich auf den Stufen beieinander, als der Mond schon aufgegangen war und auf das schwarze Kleid der Nacht wartete. Mitten auf den Stufen saß ein junger Mann mit schwarzem Kraushaar, der den Versammelten mit schöner Stimme die Songs »Sexual Feeling « und »Knocking on Heavens Door« von Bob Dylan vortrug. Es war eines der Lieblingslieder meines verstorbenen Mannes und ich musste voller Liebe an ihn denken. Auf den Treppen spielten zugleich die Kinder und die Jongleure zeigten ihre Kunststücke. Die Touristen schickten die Blitzlichter der Kameras in den Abendhimmel, der so viel Schönes versprach. Ursel nahm mich in den Arm und ich war so glücklich und dankbar, dass wir in diesem Moment beisammen waren. Es gab Beifall für die Musik und die Eisenbahn mit den Kindern fuhr an uns vorbei. Immer mehr Menschen zog es an diesen Ort. Langsam gingen die Lichter an, als der Mond im Südosten stand. Die Stadt tauchte in ein sanftes Rosa. Ursel erzählte mir, dass sie früher auch einmal Gitarre gespielt hat. Der Eiffelturm funkelte hinter den Bäumen. Bald glitzerte die weiße  Stadt im Lichtermeer. Als wir diesen Anblick genug ausgekostet hatten, fuhr Ursel mit der kleinen Zahnradbahn den Hügel hinunter, während ich lieber laufen wollte. Am späten Abend machten wir dann noch einen Bummel über den Boulevard de Clichy, bewunderten das kleine gemütliche Stadtviertel, über das Henry Miller so hautnah berichtet hatte, eroberten auf langen und breiten Straßen Pigalle, dieses Viertel, das ein wenig an den Hamburger Kiez erinnert, nur war hier alles ein wenig feiner und eleganter. Die rote Lichtmühle des Moulin Rouge strahlte im Nachthimmel und der Place de Clichy war zu dieser Stunde voller Leben. Todmüde und mit schmerzenden Füßen fielen wir an diesem späten Abend ins Bett.

 

Am nächsten Tag betrachteten wir den Louvre. Es war ein imposantes Gebäude, das eine große Ruhe ausstrahlte. Ein kleiner Roboter putzte die Glaspyramide im Vorhof. Eine lustige Anekdote besagt, dass diese Glaspyramide der teuerste Eingang der Welt ist. Mitterand gab so viele monumentale Bauten in Auftrag, dass man ihm den Spitznamen Mitteramses gab. Ursel zückte hier ihren Fotoapparat und ich staunte über die große Menschenmasse, die im Inneren der Pyramide den großen Schätzen entgegenstrebte. An diesem Tag besuchten wir auch die Kirche der Maria Magdalena. Hier machte ich eine interessante Entdeckung, die den Leser des Bestsellers »Sakrileg« von Dan Brown vielleicht neugierig macht. Ich saß inmitten des schönen Kirchenschiffes und versenkte mich in die Stille. Kurze Zeit später wanderte mein Blick auf die linke Seite und dort entdeckte ich eine weiße Statue. Es war eine Frau, die ein Kind im Arm hielt. Sie zeigte mit dem Finger auf das Kind und mit ihrem rechten Fuß zertrat sie das Haupt einer Schlange. Nun sollte man glauben, dass es sich dabei um die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind handelt. Ich erblickte aber dort in meiner Versunkenheit die Jüngerin Maria Magdalena. Auf der rechten  Seite war die weiße Statue des Christus zu sehen. Er streckte ihr die Hände entgegen, als wolle er sie und das Kind in die Arme nehmen.

 

Am Nachmittag eroberten wir dann den Eiffelturm. Unendlich viele Touristen hatten sich hier versammelt. Obwohl es schon September war, brannte die Sonne unerbittlich über unseren Köpfen, als wir in der großen Warteschlange standen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis der Fahrstuhl kam, der uns an die Spitze des Turms bringen sollte. In der Wartezeit besprühten uns Windmaschinen mit Wasser, um Ohnmachtsanfällen vorzubeugen. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis wir die erste Aussichtsplattform und dann den Gipfel erreichten. Dort oben war ein winziges Museum eingerichtet. Zwei Wachsfiguren, die erschreckend echt aussahen, bedienten hinter einer Glaswand ein Funkgerät. Die Pariser wollten hier an die Geschichte des Turms erinnern, denn wenn der Turm wegen seiner Höhe als Funkstation nicht so wichtig gewesen wäre, hätte man ihn schon lange abgerissen. Ursel staunte über die Architektur dieses Bauwerks. Als Fliegerin war sie auch absolut hingerissen von dem schönen Ausblick über die große weiße Stadt mit ihrem großen Ausflugswald, der die Strapazen des Aufstiegs vergessen lässt. Als wir wieder unten waren, erholten wir uns noch eine kleine Weile im angrenzenden Park. Ursel machte ein kleines Schläfchen.

 

Auf dem Rückweg kamen wir am Invalidendom vorbei. Ein goldener Prachtbau, in dem Napoleons Gebeine ihre letzte Ruhe fanden. Dahinter war ein Garten mit einem Krankenhaus zu finden, in dem die Invaliden immer noch gepflegt wurden. Pfleger und ältere Patienten saßen hier auf den Bänken und die Kinder spielten mit einem Ball. Hier war wieder alles so friedlich und die Sonne schien durch die Bäume. Im Cartier Latin setzten wir uns in eine Bar. Die vornehme Dame neben mir legte entspannt die Füße auf einen Stuhl und rauchte eine Zigarette, während sie sich mit ihrem Nebenmann unterhielt. Hier war alles entspannt und leger. Die Sonne schien auf die Fassade gegenüber und ich hörte den Singsang der französischen Sprache, während ich die gelöste Atmosphäre genoss und mit Ursel plauderte. Gegen Abend kamen wir an einer Galerie vorbei, die Werke von Rodin ausstellte. Im Schaufenster sah ich eine Miniaturausgabe des Denkers und einen Tänzer. Rodin ist für mich einer der größten Bildhauer unter der Sonne und er war der Wegbereiter der Moderne. Wir hätten dieses kleine Museum gern besucht, aber die Sonne ging schon unter und die Räume wurden im Vorbeigehen gerade geschlossen. Wir betrachteten an diesem Abend auch noch das Café Deux Margots und das Café de Flore, diese berühmtesten aller Pariser Cafés, deren Ambiente uns sehr beeindruckte.

 

Am nächsten Tag war ich wieder etwas aufgeregt, denn wir wollten am Nachmittag in das Marais-Viertel gehen, wo Jim Morrison gelebt hatte. Zuerst aber besuchten wir die Kirche St. Eustache, die der Musik geweiht war. Ursel interessierte sich sehr für dieses Bauwerk, weil diese Kirche im Anbau Jugendstilelemente enthielt. Im Inneren entdeckte ich ein Kunstwerk von dem Graffiti-Künstler Keith Haring. Eine kleine Tafel erklärte, dass dieses Kunstwerk von John Lennon und Yoko Ono der Kirche gespendet worden war. Im Vorplatz der Kirche war ein riesiger Steinkopf zu finden, dessen Ohr ganz offen war. Davor eine riesige Hand aus Stein, in der ein spielendes Kind sich geborgen fand. In diesen Stein war der Name Henry de Miller eingraviert. Ich fragte mich, ob der Schriftsteller Henry Miller, der ja auch gemalt hatte, die Vorlage für dieses wunderbare Kunstwerk geliefert hatte oder ob es sich dabei um einen Namensvetter handelte. Der Himmel war an diesem Tag leicht bewölkt und eine leichte Melancholie legte sich über Paris. Nachdem wir auch die Börse besichtigt hatten, gingen wir zum Centre Pompidou. Vor dem Eingang des modernen Kunsttempels hatten sich Sänger aus der Mongolei versammelt, um ihren schamanischen Obertongesang den Touristen vorzutragen, die erstaunt zuhörten und ihre Fotoapparate zückten. Wir betrachteten die bunten Nana-Figuren, die über einem kleinen künstlichen See schwebten. Danach schlenderten wir durch das Marais. Bald konnte ich nachvollziehen, warum sich Jim Morrison gerade hier niedergelassen hatte. Hier gab es die schönsten Geschäfte und kleine Buchläden, in denen man stundenlang stöbern konnte. Die Atmosphäre war hier besonders angenehm, man spürte einfach, dass hier viele Intellektuelle lebten. Das jüdische Viertel wirkte im ersten Augenblick sehr exotisch auf mich. Ich hatte wirklich das Gefühl, mich von einer Sekunde auf die andere mitten in Israel zu befinden. Überall sah man Männer in  schwarzen Roben durch die engen Gassen laufen. In den Schaufenstern wurde in jiddischer Sprache koscheres Essen angepriesen. In einem kleinen Geschäft wurde sogar eine Thora-Rolle ausgestellt. Wir beschlossen, dort in einem Lokal Falafel zu essen. Das Ambiente des Lokals erinnerte an eine Höhle in der Wüste. Ein junger Israeli, der eine Kippa auf dem Hinterkopf trug, bediente uns sehr höflich. Er hatte in diesem Restaurant sehr viel zu tun, aber zwischendurch setzte er sich immer wieder an unseren Nebentisch und studierte die heilige Schrift. Der Umschlag des kleinen Buches war mit hebräischen Goldlettern verziert und der junge Mann verneigte sich rhythmisch während des Lesens vor den heiligen Worten. Er konzentrierte sich immer wieder eine ganze Weile auf die Worte des Herrn, den Ewigen, wie er auch im alten Testament und der Thora genannt wird; dann stand er wieder vom Tisch auf und servierte den Gästen die koschere Mahlzeit. Während wir noch aßen, kam ein orthodoxer Jude an seinen Tisch, der schon ein wenig älter war, und beide erörterten leise das Gelesene. Ich beobachtete, wie der junge Mann seine Kippa abnahm und sich stattdessen den Hut des Lehrers aufsetzte, den er vorher ehrfurchtsvoll drehte und berührte, bevor er ihn auf sein Haupt setzte. Nachdem die beiden einen Abschnitt des Buches rezitiert hatten, setzte der Ältere wieder seinen Hut auf und ging von dannen, während der Jüngere unsere Teller in die Küche brachte und danach die Kasse bediente. Ich wunderte mich über dieses Ritual, denn im Judentum haben die Hüte eigentlich keine religiöse Bedeutung, sie werden nur getragen, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Träger des Hutes in Gedanken auch immer bei Gott weilt, dessen Geist ja über seinem Haupte schwebt, während er seine alltäglichen Pflichten erledigt. Mir kam  dabei der Gedanke, dass es eigentlich schön wäre, wenn alle Menschen sich während der Arbeit auch ein wenig auf Gott oder die Stille besinnen würden, in der ein großer Friede wohnt. Als wir gegessen hatten, gingen wir zum Place des Vosges, auf dessen Bänken Jim Morrison seine Gedichte geschrieben hatte. Überall saßen Menschen auf dem Rasen und den Bänken. In der Ferne hörten wir eine Violine. Auf dieser Bank sitzend fielen mir einige Zeilen ein, als ich an Jim Morrison dachte:

 

Kommen und Gehen &

das Geflimmer der Stadt -

Worte brauchen Zeit zum Fliegen –

 

Der Rhythmus wird mit den leisen Klängen

eines Meißels in den Stein geschlagen:

Die Musik des Straßenverkehrs,

das Surren der Menschenstimmen,

die sich ins Zeitlose erheben.

 

Geburt und Tod

so dicht beieinander                  

und du wartest

auf die Sonne

in der schillernden Haut

einer Eidechse

 

 

Und die Zeit vergeht

im Sekundentakt

während die Laternen

an Spiralsäulen hängend

wie Trauben am Rebstock

das Innere erleuchten

 

Im Inneren des Herzschlags

wo das Singen beginnt

und sich im Zeitlosen findet:

 

Sammlung

An-denken

Durchbruch

zur Seite der Phantasmen

im rauschenden Klang

 

Die Welt ist Musik

im Gleichklang der Liebe

Hörst du die Violine &

den Gesang der Freiheit?   

 

Als ich dieses Gedicht zu Papier gebracht hatte, entdeckten wir das Haus, in dem Victor Hugo gelebt hatte. Sein Geist hatte hier wohl die Gedanken von Jim Morrison verzaubert. Es dauerte nicht lange, bis wir Jims Wohnhaus erreichten. Die Straße lag im Schatten und war von einer leichten Melancholie umgeben. Kein Mensch war hier zu sehen und alle Fenster und Türen verschlossen. Eine dunkle Wolke schwebte wie ein dunkler Hauch der Poesie über der Wohnung, in der Jim Morrison in einer Badewanne gestorben war. In seinen Visionen und Liedern hatte er diesen einsamen Tod gewählt, hatte sich den Tod zum Freund gemacht, weil er sich mit dem Ende auseinandergesetzt hatte. Er hatte das Leben geliebt und in jeder Form gefeiert und ausgekostet, aber am Ende konnte er es auch loslassen. Seine Lieder aber gingen mir immer noch durch den Kopf, als ich das Fenster seiner Wohnstatt betrachtete. Er hatte mich mit seiner Stimme in den Zeiten der Trauer getröstet, weil er die sanfte Poesie der Klage, die großen Worte der griechischen Tragödie, noch kannte. Er hatte die dunkle Seite des Mondes in die Rockmusik eingebracht. Dafür war ich ihm immer noch dankbar. Am Ende dieses Tages fuhren wir zum Place de la Bastille. Ursel interessierte sich sehr für diesen geschichtsträchtigen Ort. Sie zeigte mir die Restmauer des alten Gefängnisses und die Siegessäule mit dem goldenen Engel. Hier sahen wir auch arme Berber, die sich auf alte Decken gelegt hatten und ihrem traurigen Schicksal tapfer ins Auge sahen. Wir besichtigten auch das Denkmal auf dem Place de la Republique. Ursel musste sich hier auf eine Verkehrsinsel stellen, um ein Foto zu machen. Am späten Abend lud Ursel mich dann zu einem exzellenten Mahl bei einem Italiener ein. Wir saßen an einem der voll besetzten Tische im Freien und unter dem Tisch lag ein schöner Hund, der von einem eleganten Franzosen oft gestreichelt wurde. Meine Tante war an diesem Abend sehr fröhlich und genoss die französische Art, derweil sie mit dem italienischen Kellner ihre Späße machte. Wir unterhielten uns lange über diese schöne Stadt und erkannten dabei, wie nahe unsere Seelen sich waren.

Am letzten Tag packten wir unsere Koffer und deponierten sie noch eine Weile im Hotel. Nach dem Frühstück bewunderten wir die Galerie Lafayette und ich bestaunte die prachtvolle bunte Kuppel in diesem Konsumtempel. Ursel wollte diesen außergewöhnlichen Jugendstil unbedingt fotografieren. Niemals habe ich schönere Kleider und schönere Stoffe in einem Kaufhaus gesehen. Danach gingen wir in eine Kirche, in der viele Votivtafeln zu sehen waren. Ich spendete eine Kerze und sprach ein kleines Gebet. Danach gingen wir durch die Galerie Vivienne und bestaunten die besonderen Auslagen in den Schaufenstern. Hier gab es auch viele antiquarische Bücher, die sehr selten und kostbar waren. Bald darauf betraten wir eine Kirche, in der klassische Musik gespielt wurde und die Menschen erholten sich dabei auf den Kirchenbänken von der Hektik des Alltags. Wir tranken noch einen Café in einer der kleinen Bars am Straßenrand und ein tibetischer Lama schlenderte in aller Gelassenheit an uns vorbei. Dies war der Vorbote für eine gute Heimreise. Als wir mit unseren Koffern zum Bahnhof liefen, verabschiedete ich mich von dieser schönen Stadt und war voller Dankbarkeit, dass ich all diese schönen Augenblicke erleben durfte. Ich gab Ursel einen Kuss auf die Wange. Auf dem Rückflug durfte ich die Welt noch einmal von oben sehen. Als wir in Hamburg landeten, kam mir diese Stadt auf einmal sehr klein vor. Aber nun konnte ich endlich verstehen, warum es sich lohnte, auf den Spuren von Jim Morrison zu wandeln. Er hatte wohl ein echtes Gespür für schöne Orte. Nun hatte ich endlich eine Rose auf sein Grab gelegt. Ich kann nur jedem empfehlen, diese schöne Stadt zu besuchen. Sie öffnet den Geist und die Sinne.